Ich tastete um mich und patschte mit der Hand in Wasser. Das Plätschern verstärkte sich zu einem munteren Bächlein, und als nächstes wurde mein Hosenboden nass.

"Verdammter Mist! Mist! Mist!"

Ich schlängelte mich aus meinem Rucksack. Mit fliegenden Fingern löste ich die Riemen und kramte meinen kleinen Klappspaten heraus. Vom Plätschern erheblich angefeuert, rückte ich dem Schutt auf meinen Beinen zu Leibe.

"Wie stellst du dir das vor, Rabenstein? Soll ich mir Kiemen wachsen lassen? Nimm das Zeug von meinen Beinen und hör auf, mich zu ersäufen!"

"Hast du ein Problem?"

Mir fiel fast der Spaten aus der Hand. Mit einer Antwort hatte ich nicht gerechnet.

"Ist da jemand? Hilfe! Hilfe! Ich bin hier unten!"

"Ich auch. Du musst nicht so schreien."

Winzige Lichtfunken tanzten vor meinen Augen, wie Sonne auf Tautropfen, die in einem Spinnennetz schaukeln. Nur dass es hier unten weder Sonne noch Tau gab - Spinnen waren allerdings nicht auszuschließen.

Vielleicht hatte die Burg mich auch am Kopf erwischt?

Ich schippte weiter. Das Wasser stieg. Kleine, vorwitzige Wellen hüpften mir über den Gürtel und liefen mir eiskalt den verlängerten Rücken hinunter.

"He, du! Ich habe dich etwas gefragt."

Die Lichtfunken verdichteten sich zu einem sanften Strahlen, das mir immerhin genug Licht für meine Arbeit gab. Ich rammte den Klappspaten in die Spalte zwischen zwei Mauerstücken und hebelte mit aller Kraft. Der Druck auf meinem linken Bein ließ nach. Ich zog es an mich, und der gefräßigen Burg blieb nur mein gelb geblümter Gummistiefel. Ich stemmte meinen strumpfsockigen Fuß gegen die Schutthalte und zerrte an meinem rechten Bein. Mein Knie knirschte - es würde wohl nie wieder so sein wie zuvor - und dann rutschte Sand zur Seite weg, und ich kam frei.

Plätschernd sprang ich auf und stieß mir mit Schwung den Kopf an der niedrigen Decke.

"Aua! Verflucht!"

"Fluchen kostet dich dein Seelenheil", sagte die körperlose Stimme naseweis. "Möchtest du nicht ein reines Gewissen haben, wenn du vor deinen Schöpfer trittst?"

"Ich möchte lieber gar nicht vor ihn treten, vielen Dank! Jedenfalls nicht heute."

Ein glasklares Lachen kam aus dem Nichts.

"Du sprichst mit mir! Wie schön."

"Wer bist du? Was bist du? Das Licht am Ende des Tunnels? Oder das Licht, in das ich gehen soll?"

"Ich weiß nicht, was du meinst. Warum zitterst du eigentlich so?"

"Weil das Wasser ar... g kalt ist und mir schon bis zum Knie reicht. Vielleicht auch, weil ich ziemlich im Stress bin! Ich will raus hier!"

"Ach so. Ja. Warte mal ..."

Während das Licht eine grüblerische Pause machte, erklomm ich die Schutthalde und wühlte mich mit dem Klappspaten in das lose Geröll. Keine Spur von Tageslicht, und nach einiger Zeit kratzte mein Klappspaten über soliden Fels.

"Da ist ein Stück vom Gewölbe eingestürzt", informierte mich das Licht. "Vorratskeller waren das einmal. Ich glaube, nicht, dass es auf diesem Weg nach draußen geht."

Ich kämpfte mit dem übermächtigen Bedürfnis, mir die Lunge rauszuschreien, aber das würde nur unnötig Luft verbrauchen.

Das Leuchten hatte sich inzwischen so weit verstärkt, dass ich mich in meinem Gefängnis umsehen konnte. Ich befand mich in einem gemauerten Schacht. Die verwitterten Stufen, die ich hinabgestiegen war, lagen gänzlich unter einer Lawine aus Geröll und Schlamm begraben. Über mir  war der Schacht mit einer dunklen Masse verschlossen - Mauerwerk wahrscheinlich. Die Wand gegenüber dem Einsturz war unversehrt. Das Leuchten hatte sich dort in den Fugen eingenistet und schuf die Illusion von Sonne, die durch Mauerritzen scheint.

"Du könntest es hier versuchen", sagte es. "Ich glaube, das ist die richtige Stelle."

"Stelle wofür?"

"Um zu graben", erklärte es geduldig.

Das Wasser hatte meine Knie geschluckt, und so diskutierte ich nicht. Ich rammte meinen treuen Klappspaten in einen Mauerspalt und versuchte, einen Stein zu lösen. Das Licht sah mir interessiert zu - soweit man das von einem Licht behaupten kann.

"Wer bist du eigentlich?", fragte es nach einer Weile.

"Emily", keuchte ich. "Schatzsucherin."

"Wie aufregend! Und? Hast du schon einen gefunden?"

"Bis jetzt nicht ... Ich wollte hier auf der Anlage den Brunnen finden ..."

"Auf Grund der Sage, die Neidecker hätten darin ihren Goldschatz versenkt, kurz bevor die Rabensteiner die Burg einnahmen?"

"Genau."

"Da ist nichts dran", erklärte das Licht. "Wir haben auf der Flucht alles mitgenommen, was wir tragen konnten."

Ich hielt inne.

"Wir?"

"Denkst du, sie hätten mich zurückgelassen? Im Gegenteil. Ich war die erste, die man wegbrachte. Schließlich war ich guter Hoffnung, und mein Gemahl hätte es sich nie verziehen, wenn mir etwas zugestoßen wäre."

"Du bist Kunigunda? Die letzte Neideckerin?"

"In der Tat." Das Licht flackerte geschmeichelt.

"Alle Achtung", sagte ich. "Dich hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt."

"Was erwartest du? Ich bin seit achthundert Jahren tot!"

"Und ich zweifle gerade an meinem Verstand."

"Keine Sorge. Das ist normal, wenn man sich in tödlicher Gefahr befindet."

Der Hinweis brachte mich wieder in die Spur. Ich hackte und rüttelte an dem Mauerwerk, was meine Kräfte hergaben, und tatsächlich gelang es mir, etwa in Augenhöhe einen nassen, sandigen Stein zu lösen. Er gab nach innen nach, also benutzte ich den Stiel des Spatens, um ihn nach hinten in eine unbekannte Dunkelheit zu stoßen. Kalte, modrige Luft schug mir entgegen.

"Da ist ein Raum!"

"Kein Raum", korrigierte mich das Licht. "Ein Fluchttunnel."

Das Wasser leckte am Saum meiner Jacke und war Ansporn genug, um blutige Blasen an den Händen und brennende Muskeln zu ignorieren. Mühsam löste ich einen zweiten Stein, dann einen dritten.

"Das wird volllaufen", keuchte ich, "so schnell, wie das Wasser hier steigt!"

"Aber es gibt Ausgänge nach oben", beruhigte mich Kunigunda. "Du musst nur durch diese Wand, dann bist du in Sicherheit!"

Mir blieb nichts, als mich auf sie zu verlassen. Die Wellen hüpften mir bereits in die Hosentaschen und kitzelten mich am Nabel, als ich endlich eine Öffnung im Mauerwerk hatte, die es mir erlaubte, mich hindurchzuquetschen. Ich spürte jede Tafel Schokolade, jedes Tiramisu, jede Salamipizza, bis ich endlich auf der anderen Seite zu Boden ging.

"Da sagen sie immer, zu viel fettes Essen kann dich töten", stöhnte ich. "Ich hatte ja keine Ahnung, wie recht die haben."

Meine Muskeln zuckten unkontrolliert, und meine Lunge fühlte sich an, als hätte jemand sie sorgsam mit Sandpapier ausgekleidet. Dennoch war mir klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Wasser durch den Überlauf abfließen würde, den ich ihm so freundlich zur Verfügung gestellt hatte.

Kunigunda war mir durch die Öffnung gefolgt. Mittlerweile war sie kein formloses Leuchten mehr, sondern eine schemenhafte Gestalt, ein waberndes, milchiges Weiß, umgeben von einer blau schimmernden Aura. Sie sah aus wie die klassische Weiße Frau, aber das behielt ich für mich. Ich wollte sie, die meine Retterin war, nicht kränken.

In ihrem fahlen Licht sah ich einen niedrigen Gang, der vor mir in die Schwärze führte. Auf Händen und Knien kroch ich los.

"Das ist der Weg, den du bei deiner Flucht genommen hast?", fragte ich.

"Ich weiß nicht genau. Es gibt eine Menge unterirdischer Gänge unter dieser Burg."

"Oh, das ist irrsinnig beruhigend."

"Ist es das?"

"Nein! Natürlich nicht! War Ironie zu deiner Zeit noch nicht erfunden?"

"Schnauz mich nicht an! Ich bin immerhin eine Edelfrau!"

Ich setzte mich auf den nassen Hosenboden und gab meinem malträtierten Körper einen Augenblick der Erholung.

"Entschuldige, Kunigunda. Ich bin ein wenig angespannt."

"Das ist ja auch kein Wunder", tröstete sie mich.

Während ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen, waberte sie ein wenig um mich herum.

"Warum bist du eine Schatzsucherin?"

"Weil ... das ist schwer zu beschreiben. Es ist ein besonderer Kitzel ... an Orte zu gehen, an die niemand sich mehr erinnert. Wo seit ewigen Zeiten niemand mehr war. Es ist, als würde man solche Orte aus dem Koma holen - aus einer tiefen Ohnmacht", fügte ich hinzu, als ich ihr verständnisloses Flackern sah. "Ein Ort, der vollständig vergessen wurde, existiert zwar noch - physisch, meine ich - aber er lebt nicht, weil niemand an ihn denkt. All die Geschichten, die an ihm kleben, sind vergessen. Wie hier. Dieser Tunnel hat Jahrhunderte im Dunkeln gelegen. Und jetzt - die Zeit ist vergangen, aber er ist immer noch da, und die Menschen können seine Geschichten aufs Neue hören. Deshalb bin ich eine Schatzsucherin."

"Dann suchst du also nicht Schätze, sondern Orte und ihre Geschichten."

"Wenn du so willst - ja. Wobei ich auch nichts dagegen hätte, einmal einen Schatz zu finden."

Eine Welle süßer Sehnsucht schwappte von ihr zu mir hinüber.

"Ich liebe Geschichten. Ich war einmal sehr verliebt in... aber egal. Kannst du wieder? Das Wasser kommt bestimmt bald durch die Öffnung."

Ich nickte und raffte mich mühsam auf.

Zu meiner Freude stieg der Gang alsbald steil an. Er war immer noch sehr schmal und niedrig, und außer Kunigunda drang kein Licht herein. Der Boden, auf dem ich mich entlangtastete, war erst gemauert, dann spürte ich rauhen Fels unter den Fingern. Als der Gang an einer Wand endete, hatte ich keine Ahnung, unter welchem Teil der Burg ich mich mittlerweile befand.

Kunigunda beleuchtete gemauerte Vorsprünge, die wie eine Hühnerleiter nach oben führten.

"Hier hinauf", wies sie mich an.

Vorsichtig richtete ich mich auf. Wenn ich den Atem anhielt, konnte ich aus der Ferne ein leises Plätschern und seine vielfachen Echos vernehmen. Eilig erklomm ich die steile Hühnerleiter, die an einer uralten, hölzernen Falltür endete.

Ich bin eigentlich kein rabiater Mensch, aber das morsche Holz hatte mir wenig entgegenzusetzen. Durch die Trümmer der Falltür zog ich mich hinauf und schwang mich mit letzter Kraft auf kühlen Stein, der mit dem Staub von Jahrhunderten bedeckt war. Kunigunda schwebte an mir vorbei und stieß einen entzückten Schrei aus, wobei sie ihr Leuchten verstärkte.

Ich kroch von der Öffnung weg. In Kunigundas Schein erkannte ich einen winzigen, fensterlosen Raum. Eine Tür führte hinaus, und über meinem Kopf befand sich eine weitere Falltür in der Decke. Das Holz war so alt, dass es die Farbe des Gesteins angenommen hatte. Der Raum war sogar mit einem einfachen Tisch und zwei Hockern möbliert - Möbel, die vermutlich auseinanderfallen würden, wenn ich sie nur berührte.

"Ich weiß, wo wir sind", verkündete Kunigunda strahlend. "Über uns ist das Wachhaus! Und hier unten habe ich mich heimlich mit meinem Liebsten getroffen. Niemand durfte davon erfahren... es war die schönste Nacht meines Lebens..."

Ich schien vorerst in Sicherheit. Das Wasser würde wohl kaum bis zu uns hinauf steigen - es sei denn, ich hatte bei meiner Expedition einen unterirdischen Strom entdeckt - und dies hier war genau das, was ich versucht hatte zu beschreiben: ein Raum, an dem vergessene Geschichten klebten. Und eine davon brannte darauf, erzählt zu werden.

"Eine heimliche Liebschaft? Das klingt romantisch. Wer war er?"

"Ein Spielmann aus verarmtem Adelsgeschlecht. Wir hatten ein großes Hoffest ausgerichtet, und er war angereist, um sich beim Sängerwettstreit zu versuchen. Er war ein Träumer. Immer mit dem Kopf in den Wolken ... Er sah in mir alle Frauen, die er jemals besungen hatte. Und ich sah in ihm ... ich weiß nicht. Freiheit. Fernweh. Sehnsucht nach ... etwas, das ich gar nicht benennen konnte." Sie seufzte leise, und ich verfolgte überrascht, wie ihre Gestalt immer deutlicher aus dem nebelhaften Leuchten hervortrat: eine kleine, junge Frau mit langen hellen Zöpfen, einem rundlichen Gesicht, dunklen Augen und einem herzförmigen Mund.

"Und gab es ein glückliches Ende mit dir und dem Spielmann?"

Ein Seufzen, das mir zu Herzen ging.

"Nein. Ich heiratete Sigismund von Schlüsselberg, wie es mir bestimmt war. Der Spielmann war nur eine kleine Flucht."

"Hast du ihn je wiedergesehen?"

Kunigunda schüttelte traurig den Kopf. "Ein paar Jahre später kamen die Rabensteiner und nahmen die Burg ein. Wir flohen Hals über Kopf ins Hoheitsgebiet der Rosenberger - meine Schwägerin war mit einem Rosenberger verheiratet. Danach hatten wir nie wieder eine solche Hofhaltung."

"Das tut mir leid."

Kunigunda nickte und strich sich mit kleinen, runden Händen über das Gesicht. Mittlerweile waren sogar die Falten ihrer Gewandung erkennbar: edler, schwerer Stoff mit Stickereien, von einem langen, geflochtenen Gürtel gerafft.

"Und du? Hast du einen Liebsten?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Leider nicht."

"Warum nicht? Du bist nicht von Adel. Du kannst dir deinen Liebsten erwählen, wie es dir gefällt, oder nicht?"

"Grundsätzlich ja, aber ... sagen wir, es ist ein bisschen schwierig für eine Frau, die in einem Männerberuf arbeitet. Die Männer finden das einerseits cool - aber dann nehmen sie doch lieber eine, die auf hohen Absätzen laufen kann und keinen Dreck unter den Fingernägeln hat."

Kunigunda nickte mitfühlend.

"Die besten Geschichten sind immer auch ein bisschen traurig."

"Hat das dein Spielmann gesagt?"

"Ja. Aber nun komm. Du willst doch wieder an die Oberfläche, oder nicht?"

"Unbedingt."

"Dann nimm die Tür. Der direkte Weg wäre nach oben ins Wachhaus, aber dafür müsste uns jemand von oben eine Strickleiter hinunterlassen."

"Verstehe."

Die Tür hatte jahrhundertelang Feuchtigkeit gezogen und war kein Problem für meinen Klappspaten aus dem Heimwerkerparadies. Es tat mir in der Seele weh, dieses ehrwürdige Zeitzeugnis so übel zurichten zu müssen, aber ich wollte immer noch nicht als bräunlich verfärbtes Skelett hier unten gefunden werden, und so machte ich kurzen Prozess mit den schwammigen Holzbohlen und arbeitete mich auf die andere Seite.

Hatte ich gehofft, dort schon meine neugewonnene Freiheit begrüßen zu dürfen, so wurde ich enttäuscht. Auf der anderen Seite der Tür lag ein weiterer niedriger, gemauerter Gang. Kunigunda schwebte mir voran, und ich schob mich gebückt hinter ihr her. Ich fand es verblüffend, wie schnell man sich an die Gesellschaft einer durchscheinenden Lichtgestalt gewöhnen konnte.

Der Gang führte einige Stufen hinauf, knickte dann scharf nach rechts ab und endete an einer Wand.

"Ähm ... Kunigunda? Du kannst ja vielleicht durch Wände gehen, aber ich ...?"

Sie lächelte und zeigte auf eine Vertiefung im Mauerwerk. Vorsichtig schob ich die Finger hinein - wer wusste schon, was da vielleicht drin wohnte und heute noch nicht gefrühstückt hatte? Stattdessen gab der Stein unter meinen Fingern nach. Es knackte vernehmlich, und ein schmaler Lichtstreifen erschien aus dem Nichts.

Ich hatte genug Abenteuerfilme gesehen, um zu wissen, was zu tun war. Ich legte die Hände auf die Wand und schob, und tatsächlich drehte sie sich um eine unsichtbare Mittelachse und entließ mich ins Freie.

Nun ja - ins fast Freie.

Der Gang setzte sich einige Meter steil bergauf fort und endete an einem Gitter. Draußen plätscherte fröhlich der Regen und wusch das Gestrüpp nieder. Ich kannte die Anlage gut genug, um zu wissen, wo ich war: an der östlichen Außenmauer, zum Wald hin. Die Gemeinde Rabenstein hatte den Stummelgang mit einem Gitter verschlossen, um wildes Campen zu verhindern. Kunigunda hatte das wahrscheinlich nicht gewusst.

"Kunigunda?"

Sie war weg. Nur ein leises Leuchten hing noch im Mauerwerk neben mir.

"Kunigunda! Nichts für ungut, aber kennst du noch einen anderen Weg? Wo bist du? Du kannst mich doch jetzt nicht hängenlassen!"

Das Leuchten schrumpfte, während ich mich darauf zu bewegte. Als ich die Wand berührte, war kaum etwas davon übrig, und über dem Plätschern des Regens war es still.

Die Quelle des Leuchtens lag zwischen den Steinen zu meinen Füßen. Ein Smartphone mit beleuchtetem Display, verpackt in eine wasserabweisende Klarsichthülle. Mit klopfendem Herzen nahm ich es hoch. Mein Weg in die Freiheit!

Das SMS-Symbol blinkte. Einer Eingebung folgend, rief ich die SMS auf.

Lieber Finder, falls Sie diese Zeilen lesen, bitte rufen Sie 09503-1234567 an, oder schicken Sie mir wenigstens meine Fotos zurück. Sie sind von unschätzbarem Wert. Das Handy ist übrigens prepaid, Sie können es mir also genauso gut zurückgeben. Herzlichst, Gunther Reitinger

Gunther. Was für ein altmodischer Name.

Ich gab die Nummer ein. Ich musste mich gegen das Gitter pressen, um ein Strichlein Empfang zu haben, aber es funktionierte, und am anderen Ende ging jemand ran.

"Hallo?"

"Hallo? Hier ist Emily. Ist dort Gunther?"

"Ja! Hallo! Wie großartig! Du hast mein Handy gefunden!"

Eine begeisterte, etwas atemlose Jungmännerstimme.

"Wo war es?"

"Auf der Rabenstein. In dem Stummelgang an der Außenmauer, falls du den kennst. Es muss durch die Gitterstäbe gerutscht sein."

"Ja! Das ist so super! Ich dachte mir schon fast, dass es dort oben geblieben ist - ich war kürzlich dort, um den verschwundenen Brunnen zu suchen - man sagt, die Neidecker hätten dort einen Schatz deponiert, bevor sie vor den Rabensteinern geflohen sind..."

"Ja, Da ist aber nichts dran. Sie haben auf der Flucht alles mitgenommen."

"Woher weißt du das?"

"Ich habe ... den Brunnen gefunden."

"Du hast was?!"

Gunther überschlug sich fast am anderen Ende. Irgendwie süß. Seine Stimme brachte etwas in mir zum Klingen.

"Ja. Und dein Handy... das ist durch die Gitterstäbe in den Stummelgang gerutscht. Da, wo ich herkam. Ich kam von innen... und jetzt kann ich nicht raus."

"Kannst du nicht den gleichen Weg zurückgehen?"

"Nein, da ist ein Einsturz. Hör mal, du musst jemanden von der Gemeinde organisieren, oder vom Heimatmuseum. Die müssen mir hier das Gitter aufschließen und mich rauslassen."

"Nicht nötig. Ich kann Schlösser knacken."

"Aber..."

"Wenn wir die Gemeinde benachrichtigen, werden wir das, was dahinter ist, nie mehr für uns haben, nicht wahr?"

"Ähm..."

"Wie war dein Name? Emily? Hör mal, ich suche diesen Brunnen schon seit Jahren. Es würde mir das Herz brechen, wenn sie mich dann nicht reinließen. Wenn das alles abgesperrt würde. Bitte. Das kannst du mir nicht antun. Ich kriege das Schloss auf, versprochen."

"Bist du etwa ein Schatzsucher?"

"Man könnte es so nennen. Ja."

Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Inneren aus.

"Wie schnell kannst du da sein?"

"Halbe Stunde! Bin schon unterwegs!"

Wir verabschiedeten uns. Während ich wartete, sah ich mir die unschätzbar wertvollen Bilder auf dem Handy an. Ziemlich viel dunkle Löcher, Gestrüpp, Schutt, dazwischen ein paar Ferienfotos, offenbar mit ausgestrecktem Arm aufgenommen. Darauf immer wieder ein schlaksiger, blasser Rotschopf mit klaren grünen Augen.

Gunther?

Vielleicht war ich auch deshalb eine Schatzsucherin: Man konnte wissen, was man suchte - aber nie, was man fand.

 

 

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